„Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf, nehmen ihr Smartphone zur Hand und öffnen die Foto-App, in dem es einen Zukunfts-Ordner gibt. Er enthält erschreckende, angsteinflößende Bilder. Sie sehen, was in den kommenden Tagen, den nächsten Jahren alles schief gehen, worunter Sie leiden, was Ihnen zustoßen wird. Sie müssen sich dieses Album nicht nur jeden Morgen ansehen, sondern auch, während Sie aufstehen, sich für den Tag fertig machen; wenn Sie zur Arbeit fahren oder Ihre Kinder von der Schule abholen. Das Problem ist, Sie können gar nicht anders, Sie MÜSSEN sehen, was Sie erwartet.“
Die Metapher stammt von einer Klientin, die mich bei starken Ängsten um Hilfe bat. Unabsichtlich berührte sie in ihrer anschaulichen Beschreibung zwei wesentliche Themen, die mich seit einiger Zeit beschäftigen: einerseits Angst als unwillkürliches, scheinbar schwer zu kontrollierendes Phänomen und andererseits die Funktionsweise der digitalen Welt.
Angst begegnet mir in meiner Praxis täglich. Sei es die Angst vor Ablehnung, Angst vor Veränderung, der Angst vor dem Scheitern oder Angst vor dem Verlust des Partners; in jeder Therapie oder Beratung spielt sie eine, mal mehr, mal weniger intensive Rolle. Insgesamt leiden 25 % der Deutschen mindestens einmal in ihrem Leben an einer Angststörung. Da die Statistik nur die diagnostizierten Fälle erfasst, also die pathologische Form des Angsterlebens betrifft, kann man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen.
Angst war und ist Teil unseres Lebens. Sie half, das Überleben im Laufe der menschlichen Evolution zu sichern. Seit mindestens 40.000 Jahren nutzen wir Formen von Sprache, die wir auch dazu nutzten, uns über gefährliche Situationen auszutauschen und uns in sicheren Gruppen zu organisieren. Für einen alternativen, einen souveränen Umgang mit Angst benötigen wir keinesfalls weiteres Wissen. Wie kann es aber sein, dass wir im Umgang mit einem so zentralen, universellen Gefühl auf individueller Ebene derart unerfahren sind?
Angst und Aufmerksamkeitsökonomie.
Tatsächlich existiert bereits sehr viel Wissen über Angst und wird bspw. von den großen Akteuren der digitalen Welt in der Programmierung ihrer Benutzeroberflächen berücksichtigt. Man weiß genauestens über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns Bescheid. Es ist erwiesen, dass Angst dabei hilft, höhere Klickzahlen und längere Verweilzeiten zu erreichen. Unser Sicherheitsbedürfnis wird regelrecht ausgenutzt, indem wir durch simple Manipulationen in kurze Momente der Unsicherheit versetzt werden. Der Klick – bspw. auf einen warnenden Nachrichtenartikel – zieht uns unwiderstehlich an; wir MÜSSEN ihn lesen.
Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit ist in vollem Gange. Denn auch für politische Parteien ist es alltägliches Kalkül, über beängstigende Zukunftsentwürfe potentielle Wählergruppen zu generieren. Bewusst erzeugte Bedrohungsszenarien lassen derzeit große Teile der Bevölkerung in die Arme von politischen Parteien laufen, weil diese einen sicheren Hafen, eine klare und berechenbare Zukunft suggerieren: Zuwanderung wird es mit uns nicht geben! Klimawandel existiert nicht!
Wenn aber dieses Wissen so weit verbreitet ist, weshalb lernen wir in der Schule nichts darüber? Wieso lernen Kinder und Jugendliche nicht über die Schutzfunktion der Angst, Risikofaktoren, die eine Angststörung ermöglichen oder adäquate Strategien kennen, die uns wieder beruhigen und entspannen? Gehört es nicht auch zum öffentlich rechtlichen Bildungsauftrag dazu? Ich bin davon überzeugt, dass allein das Wissen über biologische Grundlagen, wie zum Beispiel das Zusammenspiel von Amygdala, Hippocampus und präfrontalen Cortex bereits dabei helfen können, das eigene Erleben anders einzuordnen.
Die Macht des souveränen Umgangs mit Angst.
Mal angenommen, unsere Gesellschaft verfüge über diese Art von faktenbezogenem und handlungsbezogenem Wissen – eine souveräne Kultur des Umgangs mit Angst gewissermaßen – welche Konsequenzen hätte es? Ich gehe davon aus, dass eine aufgeklärte Gesellschaft in der Lage wäre, deutlich sachlichere Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen gegen das Diktat der Angst. Es würde bedeuten, Ängste wahrzunehmen, sie als Warnzeichen anzuerkennen und gleichzeitig handlungsfähig zu bleiben. Dies ermöglichte uns schließlich auch Nein! sagen zu können. Uns gegen etwas zu entscheiden. Zu verzichten.
Höchstwahrscheinlich würden wir den Bedrohungslagen, die in rasender Geschwindigkeit dokumentiert und uns übermittelt werden, selbstsicherer begegnen: der Gefahr vor Terrorakten, des Klimawandels ebenso wie vor Arbeitslosigkeit und Verarmung. Ein souveräner Umgang hätte demnach auch fundamentale politische Konsequenzen. Die bewusste Entscheidung gegen den angstgetriebenen Handlungsimpuls ist ein Zeichen von Stärke. Eine reife Gesellschaft ist eine aufgeklärte Gesellschaft. Sie hält trotz verunsichernder Ereignisse zusammen. Deswegen sollte das Wissen über Angst, ihre Geschichte, Funktion und der adäquate, regulierende Umgang bereits in der Schule vermittelt werden.
Literatur:
Bronner, Gérald (2022). Kognitive Apokalypse: Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft. München, C.H. Beck
Metzinger, Thomas (2023). Bewusstseinskultur: Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise. Berlin, Berlin Verlag